der arme Behinderte

„Können Sie mir bitte Geld für den Zug geben? Ich bin behindert und arbeite in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung. Bitte eine kleine Spende!“
Da steht ein dicker Mann auf dem Vorplatz des Hauptbahnhofs, seinen Behindertenausweis in die Luft haltend. Als ich an ihm vorbei laufe fällt mir der intensive, nicht wirklich angenehme Körpergeruch auf. Ich bleibe stehen. Sein Haar ist auf praktische drei Milllimeter geschoren, er trägt eine Brille durch die seine Augen unnatürlich groß erscheinen, um seinen Hals hängt ein Brustbeutel. Um das Bild abzurunden trägt er passend zu seiner kurzen, karierten Hose Sandalen mit Socken. Das Klischee lebt.
„Ich soll Ihnen jetzt Geld geben weil Sie eine Behinderung haben, sehe ich das richtig?“

„Ja, hier ist mein Ausweis. Ich hab kein Geld für den Zug.“

„Sie wissen aber schon, dass Sie mit Ihren Ausweis umsonst fahren können, oder?“

„Aber ich arbeite auch mit so Leuten! In einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung!“

„JA UND?!“ ranze ich ihn an.

Die Passanten gucken mich an als hätte ich gerade einen Welpen angezündet, völlig verständnislos, wie ich mit dem armen Behinderten so reden kann. Der arme Behinderte ist mittlerweile dabei den nächsten anzuquatschen und kassiert fleißig die Almosen. Kann er nicht einfach betteln, weil er Kohle haben will? Kann er nicht einfach betteln, weil er neue Drogen braucht? Ist mir doch egal dass er einen Ausweis hat, auf dem steht, dass er manche Dinge nicht so gut kann wie manch anderer.

Schnell steige ich in den Bus um mich der Situation zu entziehen, außerdem muss ich zur Arbeit.

In einem kleinen Vorort, der geschmückt ist mit grauen Nachkriegsbauten und fetten Karren steht mittendrin ein großer gläserner Wohnkomplex. Ich maschiere hinein, durch die Tür, die sich automatisch öffnet, nehme den großen Aufzug in den dritten Stock und laufe durch den riesigen Flur direkt in Wohnung Nummer eins. Meine erste Amtshandlung ist es, meine Notdurft auf der erhöhten Toilette zu verrichten. Es gibt keine separaten Mitarbeiterklos. In der Küche höre ich aufgeregtes Geschnatter. 13 Uhr. Imke ist nach Hause gekommen.

„Na Marta“ satg sie und watschelt an mir vorbei in Richtung Brotkorb. „Na Imke. Wie war’s heute in der Werkstatt?“-„Gut.“ Antwortet sie knapp und schmiert sich zwei zentimeter Butter aufs Weißbrot. Darauf drei Scheiben Schinkenwurst, Ein perfektes Mittagessen. „Wann kommt Leon nach Hause?“ fragt sie, während sie das Fettbrot vernichtet. „Wenn er Feierabend hat, so wie du“ sag ich. „Was machen wir heute?“ fragt sie. -„Mir egal, schlag was vor. Das Wetter ist schön, wir können was unternehmen.“-„Ja?“-„Ja. Aber zum Hauptbahnhof können wir nicht, da sind nur komische Leute unterwegs heute.“-„Was für Leute denn?“ fragt sie, mittlerweile damit beschäftigt das nächste Brot vorzubereiten. „Leute mit Socken in Sandalen.“-„Oh.“ Die Packung Schinkenwurst ist mittlerweile leer, Imke schwinkt ihren 1,50m großen Körper mit wackeligen Schritten in ihr Zimmer. „Ich geh jetzt fernsehen.“ verkündet sie. „Und unser Ausflug?“-„Mir egal, sag einfach wenn wir fahren.“

„SOO KINDERS! ICH JETZT DA!“ Die Tür fliegt auf und Leon schebt herein. Direkt räumt er das Chaos weg, das Imke bei ihrer Zeremonie hinterließ. „HALLO LEON!“ schreie ich. „Ah, du hier. Hallo!“-„Sollen wir heute weg fahren? Es ist schön draußen.“-„Draußen gehen? In Zoo?“ Seine riesigen Augen schauen mich voller Freude an, er zieht die Lederjacke aus und entblößt dabei seine tätowierten Arme. Nimmt sich ein Bier aus dem Kühlschrank. „Du auch Bier trinken?“ fragt er. „Nee, wenn wir gleich in den Zoo fahren muss ich doch das Auto bedienen!“

15 Uhr. Leon und Imke sitzen im Auto und warten darauf dass ich endlich los fahre. „Imke hast du deinen Ausweis dabei?“ „Ja! Den brauchen wir doch, sonst wird das zu teuer, ne?“ Sagt sie. Und hält ihren Schwerbehindertenausweis in die Luft. „Genau.“ sage ich. Und bin froh darüber, dass ich den Mann vom Bahnhof nicht betreuen muss.